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Ruderalvegetation - Was ist das? 

Ruderalvegetation

Die Ruderalvegetation besiedelt offene und häufig gestörte Flächen der Siedlungen, Industrie- und Entsorgungsanlagen sowie Verkehrswege. Sie ist auf kleinstem Raum sehr vielfältig, da bereits geringe änderungen einzelner Standortsfaktoren zu quantitativen oder qualitativen Veränderungen in der Artenzusammensetzung führen. Die Ruderalvegetation ist zudem sehr stark von historischen Faktoren geprägt; sie widerspiegelt geradezu unsere Kulturgeschichte.

Wegen der raschen Reaktion auf Veränderungen ihres Lebensraums kann die Ruderalvegetation als Modell für die Zusammenhänge zwischen Biozönose und Standortsfaktoren gelten. Besonders interessant ist das Vermögen der Ruderalpflanzen, gestörte bzw. in der Naturlandschaft nicht auftretende Wuchsorte zu besiedeln. Die Dynamik (species turnover) ist recht hoch, zumal sich Neophyten häufig zuerst an Ruderalstandorten einbürgern.

Der Begriff Ruderalvegetation leitet sich von rudus, ruderis (lat.: Schutt, Mörtel) ab. In der botanischen Fachliteratur ist er nach Heklau & Dörfelt (1987) erstmals 1721 bei Buxbaum sowie 1751 bei Linnaeus nachzuweisen. Der Ruderalbegriff erfuhr insbesondere im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Kombinationen eine erhebliche Begriffserweiterung bzw. -aufweichung, so z. B.:


halbruderal Ruderalpflanze
Ruderalgesellschaft Ruderalstandort
Ruderalisierung Ruderalstratege
Ruderalökosystem Ruderalvegetation

Deswegen war eine neue Definition erforderlich (Brandes 1985, Brandes & Griese 1991):

Ruderalvegetation ist die vorwiegend krautige Vegetation anthropogen stark veränderter und/oder gestörter Wuchsplätze, sofern diese weder land- noch forstwirtschaftlich genutzt werden.

Diese Definition geht bewußt von den Lebensbedingungen der Ruderalvegetation aus, so daß auch ein Vergleich zwischen verschiedenen Florengebieten möglich wird. Eine Beschränkung auf bestimmte pflanzensoziologische Einheiten erscheint hingegen ebenso wenig sinnvoll wie auf bestimmte Gattungen bzw. Familien oder Strategietypen. Die sog. "ruderalen Gehölzbestände" gehören nicht zum Kern der Ruderalvegetation, da ihnen das charakteristische Merkmal Störung meistens fehlt.

Auch Heklau und Dörfelt (1987) kommen bei ihrer Untersuchung "zum Ursprung und Gebrauch des Ruderalbegriffes in der Botanik", zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Sie stellten fest, daß der Ruderalbegriff über den Standort definiert werden muß, da es keine (?) Pflanzen gäbe, die ihre Sippenevolution an Ruderalstandorten durchgemacht hätten. Die allermeisten Ruderalpflanzen können daher nur relativ als Ruderalpflanzen definiert werden. Sie haben ihren [ursprünglichen] Schwerpunkt in anderen Habitaten. Die relativ wenigen Ausnahmen hiervon sind im Hinblick auf die Anökophyten-Diskussion besonders interessant.

Literaturhinweise zur Definitionsproblematik

  • Brandes, D. (1985): Die Ruderalvegetation im östlichen Niedersachsen: Syntaxonomische Gliederung, Verbreitung und Lebensbedingungen. - Habilitationsschr. Naturwiss. Fak. TU Braunschweig. VI, 292 S. Tab.Anh.
  • Brandes,D. & D. Griese (1991): Siedlungs- und Ruderalvegetation von Niedersachsen. Eine kritische übersicht. - Braunschweig. 173 S. (Braunschweiger Geobotanische Arbeiten, 1.)
  • Heklau, H. & H. Dörfelt (1987): Zum Ursprung und Gebrauch des Ruderalbegriffes in der Botanik. - Wiss. Z. Univers. Halle, 36 M (4): 49-58.

 

Ruderalflora

Unter der Ruderalflora eines Gebietes versteht man die Gesamtzahl seiner Ruderalpflanzen, d. h. der Arten, die ihren Verbreitungsschwerpunkt auf anthropogen stark veränderten und/oder gestörten Wuchsplätzen haben. Neben den Ruderalpflanzen werden sich an jedem konkreten Wuchsplatz (Ruderalstelle) weitere Arten als "Begleiter" oder "Zufällige" finden, die ihren Schwerpunkt in anderen Vegetationseinheiten haben, die spezifischen Lebensbedingungen auf Ruderalstellen jedoch mehr oder minder tolerieren können. Hinzu kommen zahlreiche Zier- und Nutzpflanzenarten, die auf Ruderalstellen (oft zunächst nur unbeständig) verwildern. Es ist daher sinnvoll, Ruderal- und Adventivflora zusammenzufassen.

Wie viele Ruderal- und Adventivpflanzen gibt es derzeit in Mitteleuropa?

Eine Checkliste ist bereits in Arbeit; sie soll später an dieser Stelle veröffentlicht werden. Für das Bundesland Niedersachsen wurde die Anzahl jedoch bereits vor 20 Jahren abgeschätzt (BRANDES & GRIESE 1991). Damals waren ca. 550 Taxa am Aufbau der Ruderalvegetation von Niedersachsen beteiligt, von denen etwa 300-350 ihren eindeutigen Schwerpunkt in der Ruderalvegetation hatten. Die Analyse der Süd-Niedersachsenkartierung (HAEUPLER 1976) hinsichtlich der Häufigkeitsverteilung aller 238 Ruderalpflanzenarten von 88 Meßtischblatt-Quadranten des Großraums Braunschweig ergab, dass sie keineswegs alle häufig und/oder gleichmäßig verteilt waren. Nur wenige Taxa (10, 9 %) waren sehr häufig, d. h. in mehr als 90 % aller Quadranten vertreten. Lediglich ein Fünftel aller Ruderalpflanzen wurde in mehr als 70 % aller Quadranten gefunden (BRANDES 1978).

Welche Ruderalpflanzen sind am häufigsten?

Im "Niedersächsischen Pflanzenarten-Erfassungsprogramm" wurde die Flora von Niedersachsen und Bremen von 1982-2003 in 1.738 Quadranten mit einer Gesamtfläche von 48.022 km2 kartiert (GARVE 2007). Unter den 47 Sippen mit der größten flächenhaften Verbreitung finden sich immerhin 27 Ruderalarten im weiteren Sinne, die zu einem Teil natürlich auch auf äckern auftreten (Tab. 1). Interessant ist die Herkunft der Arten: Es handelt sich zum größten Teil um einheimische Arten, nur zwei von ihnen, nämlich Conyza canadensis und Matricaria discoidea sind Neophyten. Die meisten Arten sind als nitrophil einzustufen, der Mittelwert der N-Zeigerwerte liegt bei 7. Die restlichen 23 Arten der besonders häufigen Sippen umfassen fast nur Arten des Wirtschaftsgrünlandes, unter ihnen finden sich keine Neophyten. Ihr Nährstoffzeigerwert liegt im mittleren Bereich, wobei sich zahlreiche Arten gegenüber dem Standortfaktor Stickstoff indifferent verhalten.

Tabelle 1: Die häufigsten Ruderalpflanzen in Niedersachsen (nach GARVE 2007)

TaxonAnzahl der
Quadranten
Prozent aller
Quadranten
Urtica dioica subsp. dioica173099,55
Poa annua172899,42
Cirsium arvense172799,36
Plantago major subsp. major172799,36
Stellaria media172699,31
Elymus repens172599,25
Capsella bursa-pastoris172499,19
Polygonum aviculare agg.172499,19
Artemisia vulgaris172098,96
Cirsium vulgare171998,91
Galium aparine171998,91
Chenopodium album agg.171698,73
Poa trivialis subsp. trivialis171698,73
Glechoma hederacea171598,68
Sambucus nigra171598,68
Anthriscus sylvestris subsp. sylvestris171498,62
Rumex obtusifolius171498,62
Tripleurospermum perforatum171498,62
Tanacetum vulgare171098,39
Bromus hordeaceus subsp. hordeaceus170898,27
Conyza canadensis170698,16
Matricaria discoidea170598,10
Veronica arvensis170598,10
Aegopodium podagraria170397,99

Welche Arten haben sich innerhalb der letzten drei Jahrzehnte besonders rasch ausgebreitet?

Auch diese Frage kann mit Hilfe der Daten des "Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen in Niedersachsen und Bremen" beantwortet werden. Die 26 bei GARVE (2007) genannten Arten mit besonders starker Ausbreitungstendenz (von 1981 bis 2003) sind ausnahmslos ruderale Arten (zumindest in ihrem erweiterten Areal). Es sind überwiegend Neophyten, aber auch einige einheimische Arten: Cochlearia danica, Filago arvensis, Lactuca serriola, Leontodon saxatilis, Saxifraga tridactylites und Vulpia myuros. Nur drei Arten sind Archäophyten bzw. vermutliche Archäophyten: Anthriscus caucalis, Tragopogon dubius, Valerianella carinata. Die größte Bestandszunahme wurde für einige Taxa ermittelt, die sich insbesondere an Verkehrsanlagen (Eisenbahnanlagen, Autobahnen und Schnellstraßen) ausbreiten. Besonders augenfällig ist die Zunahme der Nachweise von Atriplex micrantha von 2 auf 66 Meßtischblättern, was eine Zunahme auf 3.300 % bedeutet.

Zitierte Literatur

  • BRANDES, D. (1978): Zur Verbreitung von Ruderalpflanzen im östlichen Südniedersachsen. – Göttinger Floristische Rundbriefe, 12: 106-112.
  • BRANDES, D. & D. GRIESE (1991): Siedlungs- und Ruderalvegetation von Niedersachsen. – Braunschweig. 173 S. (Braunschweiger Geobotanische Arbeiten, 1.)
  • GARVE, E. (2007): Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen in Niedersachsen und Bremen. – Hannover. 507 S. (Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen, 43.)
  • HAEUPLER, H. (1976): Atlas zur Flora von Südniedersachsen. - Göttingen. 367 S. (Scripta Geobotanica, 10.)




[i] zuletzt aktualisiert: 16.11.2015                                                                                                                                                    
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